Wort zum Nachdenken 24./25.08.

Kreativität und Freiheit
Dabei ist Lesen höchst kreativ: lesen meine Frau und ich dasselbe Buch, so malen wir uns z.B. die beschriebenen Schauplätze oder handelnden Personen ganz unterschiedlich aus und wir ziehen ganz individuelle Schlüsse für uns, was uns an dem Buch wichtig ist. Das zeigt, dass Lesen nicht reiner Konsum ist, sondern ein individueller, gestalterischer, freier und aktiver Vorgang.
Dieselbe Kreativität und Freiheit zeigen sich in unserem Umgang mit Orten: seit Jahren fahren wir im Sommer in die Tiroler Alpen zum Wandern. Es ist ganz erstaunlich zu beobachten, wie unterschiedlich Menschen diese Landschaft für sich nutzen, sportlich, wild, ruhig, wahrnehmend, erobernd, besiegend, achtsam, ehrfürchtig usw. Darin ereignen sich ganz individuelle Lebensgeschichten, Vorlieben, Bekanntschaften, Begegnungen und jede*r einzelne nimmt völlig unterschiedliche Erinnerungen und Inspirationen mit. Orte animieren uns offensichtlich dazu, sie kreativ zu unseren individuellen Lebens-Räumen zu gestalten und sie mit eigenen Geschichten und Emotionen zu besetzen. Wir nehmen nicht nur einfach und passiv wahr, sondern unsere Art der Wahrnehmung ist sehr schöpferisch und frei.
Das könnte uns auch in anderen Lebenssituationen inspirieren, und zwar immer dann, wenn wir denken, dass uns etwas unfrei macht oder erdrückt. Wie sich selbst unser Konsum bei genauem Hinsehen als gestalterisch, individuell und frei erweist und wir eben nicht von der Werbeindustrie ferngesteuerte Konsument*innen sind, so sind wir auch nicht Opfer irgendeiner Wirtschaftsstruktur, Politik oder Gesellschaft, irgendwelcher Krankheiten, Familiengewohnheiten oder Unglücke. Wir sind in jedem Augenblick frei, unser Eigenes kreativ und individuell in die Dinge einzutragen. Wie wir die Dinge wahrnehmen und wie wir uns zu ihnen stellen und was wir daraus machen, ist uns nicht aufgezwungen, sondern liegt in unserer Hand. Uns ist wesentlich mehr Selbststeuerung und Mitverantwortung möglich, als wir manchmal wahrhaben wollen. Was aus dieser Welt wird, ist tatsächlich offen. Und was wir tun, spielt wirklich eine Rolle in dieser Welt.
Dr. Michael Groß
Caritas Nürnberger Land